Im für uns einfachsten, jedoch für die Betroffenen nicht minder schwierigen Fall kann spekuliert werden, dass der heftige Widerstand des ukrainischen Volkes zu einem Regimewechsel in Russland führt. Aber abgesehen von Sanktionen, deren Wirksamkeit nach wie vor umstritten sind, bleiben die Hände der westlichen Welt gebunden. Ein Eingreifen der NATO würde zu einer unvorhersehbaren Eskalation führen und verbietet sich mit Blick auf die russischen Atomwaffen wohl auch in Zukunft.
Sollte ein konstruktiver Regimewechsel in Russland erfolgen, könnten wir zum business as usual zurückkehren und bezüglich des Umbaus unseres fossilen Energieversorgungssystems zum ursprünglichen Plan zurückkehren.
Wahrscheinlicher ist es nach wie vor, dass das russische Regime seine Strategie umsetzen kann und – wenn auch vielleicht nur kurzfristig – die ganze Ukraine oder wichtige Teile davon besetzen wird. In der Folge bliebe das bestehende russische Regime an der Macht. Eine Frage ist, was dies für die westliche Hemisphäre bedeutet – und damit auch, was es für unsere Energieversorgung bedeuten wird.
In diesem Fall steht die westliche Welt vor einer schwierigen Entscheidung; duldet sie die Unterjochung eines freien Landes oder nicht? Tut sie das, wird sie davor zurückschrecken, die Öl- und Gaslieferungen aus Russland mit Sanktionen zu belegen. Es bleibt in diesem Fall abzuwarten, ob die anderen Sanktionen einen bleibenden Effekt haben werden oder nicht.
Bezüglich der Energieversorgung könnte man in diesem Fall hoffen, dass sich die Energiepreise wieder normalisieren – es sei denn, Russland macht seine Drohung war und schränkt die Lieferungen nach Europa ein. Geschieht dies, ist davon auszugehen, dass die Energiepreise zumindest kurzfristig hoch bleiben, bis es gelingt, die Lieferungen aus Russland zu ersetzen. Bedauerlicherweise wird dies kaum erfolgreich sein, ohne anderen autoritären Potentaten – diesmal im Nahen Osten – zu huldigen.
Ein ähnlicher Effekt würde sich auch einstellen, wenn Europa den USA folgt und russisches Öl und Gas mit einem Embargo belegt. Kurzfristiger Ersatz wäre nur beschränkt verfügbar und müsste teuer bezahlt werden. Gleichzeitig würde sich das Ölgeschäft in zwei Märkte aufteilen: einen mit russischem und einen ohne russisches Öl, wobei das russische Öl mit erheblichem Preisabschlag an jene verkauft würde, welche weiterhin keinen Skrupel haben, sich die Droge Erdöl von Putin liefern zu lassen. Dies hätte den wüsten Effekt, dass die Wirtschaft vieler autoritärer Regimes – vorab China – durch günstigere Erdölpreise gestärkt würde.
Für die russische Wirtschaft wäre ein solches Embargo gleichwohl desaströs: Zwar kann Erdöl grundsätzlich weltweit verkauft werden, die russische Infrastruktur zur Lieferung von Gas ist jedoch fast ausschliesslich auf Europa ausgerichtet. Mit 56.2 Milliarden Euro machten die russischen Gasexporte 2019 rund 40% der Einnahmen aus dem Verkauf von fossilen Energieträgern aus. Inwiefern eine solche Massnahme das Regime in die Knie zwingen würde, lässt sich nur schwer beurteilen und hat auch viel damit zu tun, wie weit das Regime willens und in der Lage ist, die Repression im Inland weiter zu erhöhen.
Insgesamt ist es wahrscheinlich, dass die Energiepreise hoch bleiben, selbst wenn der Westen darauf verzichtet, seine Energiepolitik unter Ausschluss von Russland neu zu orientieren. Erinnerungen an die Energiekrisen der 70er Jahre werden wach, Befürchtungen einer Rezession wachsen begreiflicherweise. Dem kann entgegengehalten werden, dass der Anteil der Energiekosten an den Vorleistungen der Wirtschaft in den letzten 50 Jahren gesunken ist und sich die Wirtschaft auf veränderte Preise gut einstellen kann.
Sorgen sollte uns aber machen, dass die jüngsten Ereignisse wohl einen Trend zur Aufrüstung lostreten wird. Diese Überlegung mag eine Berechtigung haben, darf aber nicht zum Vorwand genommen werden, das Engagement im Klimaschutz zurückzustellen. Dafür sprechen auch sicherheitspolitische Überlegungen: Man muss davon ausgehen, dass der Klimawandel in den besonders betroffenen Gebieten zu einer Destabilisierung führen wird.
Wie wir es drehen und wenden: Die Aussichten sind unerfreulich. Die Analyse legt aber einmal mehr schonungslos offen, dass es nicht nur aufgrund der Klimakrise sinnvoll ist, aus den fossilen Energieträgern auszusteigen. Der Krieg in der Ukraine ist nicht der erste Fall, in dem autokratische Diktatoren durch unsere Abhängigkeit gestärkt wurden und schreckliches Leid über Menschen bringen. Die Massnahmen der EU, welche die Abhängigkeit von russischem Gas um zwei Drittel reduzieren sollen, sind nur auf den ersten Blick beruhigend. Viele der Massnahmen sehen die Diversifizierung der Erdgas-Quellen vor. Es ist zumindest ein Lichtblick, dass die EU die aktuelle Krise gleichzeitig zum Anlass nehmen will, auch den Ausstieg aus den fossilen Energien zu beschleunigen und dazu den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben. Das Programm legt aber schonungslos offen: Ein Ausstieg aus den fossilen Energien ist nicht von einem Tag auf den anderen zu haben. Es braucht eine vorausschauende Planung über Jahrzehnte, die beispielsweise Italien sträflich vermissen liess. Da der Fokus bisher im Wesentlichen auf Erdgas mit Lieferschwerpunkt Russland gesetzt wurde, muss die Sonnenstube Europas nun auf den Beschluss, seine Kohlekraftwerke bis 2025 auszuschalten, zurückkommen. Auch Deutschland will so Reserven schaffen.
Mit Blick auf die Schweiz kann festgehalten werden, dass die direkte Abhängigkeit der Schweiz von Russland nicht besonders gross ist. Allerdings beziehen wir den Grossteil unserer Energieträger aus dem europäischen Markt. Die veränderten Preise werden voll auf die Schweiz durchschlagen. Natürlich könnte die Schweiz allfällige Sanktionen umgehen. Dieser Weg wäre aber mit erheblichen Reputationsschäden verbunden und würde jegliche Unterstützungsrhetorik für die Ukraine als Worthülsen entlarven.
Für den Ausbau der Erneuerbaren und die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern gelten auch für die Schweiz die oben gemachten Feststellungen: der Ausbau Der einheimischen erneuerbaren Energien muss von langer Hand geplant werden. In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, dass das Argument einer höheren Selbstversorgung im Rahmen der Diskussion um das CO2-Gesetz im letzten Sommer kaum Widerhall fand. Es ist zu hoffen, dass dieses Argument in kommenden Abstimmungen mit den schmerzlichen Erfahrungen dieses Winters mehr Gewicht bekommt.
Fakt bleibt: Der Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung ist kurzfristig schwierig, aber mittelfristig machbar und wird für die Volkswirtschaften insgesamt von Vorteil sein, da diese Strategie Arbeitsplätze schafft und solche aussen- und klimapolitisch hochproblematischen Abhängigkeiten entschärft.