Befindet sich die Kernenergie auf der Überholspur?


Befürworter der Kernkraft behaupten, es gäbe nur zwei Länder, die den Ausstieg aus der Kernenergie ernsthaft ins Auge fassen würden: Die Schweiz und Deutschland. Eine genauere Analyse der verfügbaren Informationen über Anlagen, die zurzeit im Bau sind, weist jedoch ein ganz anderes Bild auf.

Es wird schnell klar, dass die Kernkraft effektiv nur an wenigen Orten auf dem Vormarsch ist. In den meisten Ländern sieht man eine Stagnation der Produktion von Strom aus Kernkraftwerken (KKW).

Dieses Bild verstärkt sich zusätzlich, wenn man berücksichtigt, dass alle KKW altern und mit der Zeit ersetzt werden müssen. Es gibt auf der ganzen Welt kaum eines, das länger als 40 Jahre in Betrieb war. Die ältesten drei Schweizer Kernkraftwerke sind, zusammen mit dem Kernkraftwerk von Fessenheim, gleichzeitig die ältesten weltweit. Diese sind heute rund 50 Jahre in Betrieb. Viele andere Kraftwerke wurden aus technischen Gründen bereits ausser Betreib genommen. Oft stiegen die Unterhaltskosten so stark an, dass sich ein Betrieb nicht mehr lohnte.

 

Anstieg oder Abfall der Stromproduktion in Zukunft?

Man kann auf Basis des heutigen Kraftwerksparks und unter Benutzung von ein paar Eckwerten berechnen, wie viele Kraftwerke im Bau sein müssten, um den aktuellen Stand der Produktion langfristig aufrecht zu erhalten. Um diese Berechnung durchführen zu können, muss man einige Annahmen treffen. Man benötigt einerseits Durchschnittswerte für die Lebensdauer eines Kernkraftwerks und andererseits Schätzungen für die Dauer der Bauzeit eines neuen Kraftwerks – vom Start der Realisierung bis zur Inbetriebnahme.

Für ersteres sind 60 Jahre eine optimistische Annahme, bei letzterem kann man von ungefähr 10 Jahren ausgehen. Mithilfe dieser Zahlen wird ersichtlich, dass es Reaktoren[1] mit einer Leistung von 60 GW bräuchte, um die aktuelle Stromproduktion sicherzustellen. Tatsächlich werden weltweit Anlagen gebaut, die diese Leistung decken. Daraus zu schliessen, die Kernenergie sei auf einem stabilen Pfad, ist aber falsch. Entscheidend ist vielmehr die geografische Verteilung.

Kernkraft nur in wenigen Ländern im Aufwind

In Frankreich wird gerade ein Kernkraftwerk gebaut, effektiv bräuchte es aber mindestens sechs von ihnen, um die Stromproduktion aus KKW im Land aufrecht zu erhalten. Ähnliches gilt für England. Dort wurde kürzlich der Bau einer neuen Anlage beschlossen [2]. Diese würde zwar reichen, um den relativ tiefen Anteil von Kernenergie aufrechtzuerhalten, die Anlage ist aber erst beschlossen und noch nicht gebaut. In vielen weiteren Ländern, unter anderen in den USA[3], befindet sich die Kernenergie im Krebsgang, weil nicht genügend Anlagen in der Pipeline sind, um alte Anlagen zu ersetzen.

Es gibt einige wenige Länder, in denen die Kernkraft im Aufwind ist. In China wird zurzeit eine Anlagenkapazität von 25 GW gebaut, bei einem Bestand von 31 GW installierter Leistung. Ein anderes Land, das seinen Park vergrössert, sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Oft wird auch Russland als Beispiel für die Expansion erwähnt, doch die nackten Zahlen sind weniger berauschend: 6.5 GW sind in Bau, 4.2 GW würden benötigt, also ergibt das einen Überschuss von nur 2,3 GW. Das gleiche gilt für Indien: 1 GW würde benötigt, 4 GW sind in Bau. Bei der schieren Grösse dieser Länder sind diese Wachstumszahlen nicht bedeutend.

Ein Revival der Kernkraft ist weit entfernt

Wollte man den Anteil der Kernenergie an der Stromproduktion von 6 Prozent erhöhen, wären andere Zahlen notwendig. Wollte man die Kohle permanent aus der Stromproduktion verdrängen, müssten weltweit ständig etwas über 600 Bauprojekte für Kernkraftwerke in Realisierung sein. Davon ist man weit entfernt.

Zusammenfassend kann man festhalten: In den meisten Ländern, die über einen grossen Anlagenpark zur Produktion von Kernenergie verfügen, reichen die aktuellen Bauprojekte nicht oder nur knapp, um die Anlagen, welche im Betrieb sind, zu ersetzen. Ausserdem kämpfen viele Bauprojekte, insbesondere diejenigen in Europa, mit erheblichen technischen und finanziellen Schwierigkeiten. In Ländern, in denen heute neue Projekte angeschoben werden, wie beispielsweise in England, können sie sich auf dem Markt nur mit erheblichen Finanzgarantien seitens der Standortländer durchsetzen. Die meisten Länder, in denen die Kernenergie auf dem Vormarsch ist, sind nicht demokratisch organisiert und verfügen nicht über einen liberalisierten Strommarkt. Demzufolge findet das Revival der Kernenergie nur in den Köpfen einiger Kernkraftbefürworter statt. In der Realität sind wir weit davon entfernt.

[1] Entspricht 50 bis 60 Reaktoren, je nach Typ
[2] Die Anlage in Hinkley Point kann nur realisiert werden, weil Grossbritannien hohe finanzielle Kreditgarantien und einen gesicherten Abnahmepreis über 35 Jahre zur Verfügung stellt.
[3] 5.6 GW in Bau, mindestens 7 GW benötigt