Seit geraumer Zeit wird darüber gestritten, ob zur Sicherstellung der Stromversorgungssicherheit in der Schweiz neue Gasturbinen-Kraftwerke gebaut werden müssen – und wenn ja, wie gross die notwendige Leistung sein sollte. Diese Kraftwerke sollen als Reserve gehalten werden und nur dann zum Einsatz kommen, wenn sich eine Knappheit in der Stromversorgung abzeichnet. Studien über die europäische Stromversorgung zeigen, dass ein Einsatz nur in den seltensten Fällen überhaupt notwendig wäre. Um unter anderem die Frage nach der Grösse solcher Reservekapazitäten zu beantworten, hat die Elcom eine neue Studie zur Stromversorgungsicherheit verfasst, deren Resultate seit einigen Tagen vorliegen.
Neue Gasturbinen-Kraftwerke sind eigentlich nicht nötig
Die gut dokumentierten Studienresultate helfen aber für die Planung möglicher Gasturbinen-Kraftwerke nicht wirklich weiter. So kann man aus der Studie entnehmen, dass in den 2030er-Jahren zwischen 0 und 1.4 GW Leistung aus fossilen Kraftwerken notwendig sein würde. Wie viel es genau sein wird, hängt davon ab, wie sich Nachfrage und Produktionsmöglichkeiten für Strom in den nächsten Jahren in der Schweiz und in Europa entwickeln.
Die grosse Spannweite der Resultate entsteht dadurch, dass die Elcom verschiedene, wahrscheinliche Entwicklungsparameter miteinander verbindet. Neben Annahmen über die europäische Verfügbarkeit und die Existenz eines Stromabkommens zwischen der EU und der Schweiz sind dies Verbrauchsparameter wie die Geschwindigkeit in der Entwicklung der Elektromobilität oder in der Verbreitung von Wärmepumpen. Besonders wichtig ist aber die Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Kommen wir diesbezüglich schnell genug voran, wird der Bedarf an zusätzlichen, fossilen Leistungen zur Absicherung deutlich geringer. Die Resultate der ElCom bestätigen damit die Schlussfolgerungen unserer Studie, die wir in Zusammenarbeit mit der ZHAW im Frühling 2023 veröffentlich haben: Neue Gasturbinen-Kraftwerke sind eigentlich nicht nötig – wenn wir ambitioniert die erneuerbaren Energien ausbauen und gleichzeitig sicherstellen, dass auch unsere Stauseen ihren Beitrag zur Bereitstellung von Reserven optimal leisten können.
Klumpenrisiko Kernkraftwerke
Auf der Seite der Risiken sticht ein Klumpenrisiko besonderes hervor: die Verfügbarkeit der bestehenden Kernkraftwerke. Können unsere Kernkraftwerke tatsächlich bis zum Alter von 60 Jahren oder länger betrieben werden, bleibt die Versorgungssicherheit deutlich grösser und der Ausbaupfad der erneuerbaren Energien muss weniger ambitioniert sein. Wir halten aufgrund internationaler Erfahrungen ein solches Szenario für möglich und sinnvoll – der Weiterbetrieb ist jedoch keineswegs garantiert. Deshalb wäre es falsch, den Ausbau der Erneuerbaren zu verlangsamen. Der Mantelerlass, der sich im Parlament auf der Zielgeraden befindet, weist hier den richtigen Weg.
Differenzierte Strategie für Stromversorgungssicherheit
Politische Entscheidungen auf der Basis so grosser Unsicherheiten sind schwierig zu treffen. Der Bund tut wohl gut daran, eine differenzierte Strategie zu entwickeln, die je nach Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien unterschiedlich weiterentwickelt werden kann. Eine verlässliche Stromversorgung – heute und in Zukunft – ist sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bevölkerung zentral. Eine ambitionierte Klimapolitik, wie sie swisscleantech fordert, wird nur durch die Bevölkerung getragen, wenn die Stromversorgungssicherheit gewährleistet ist.
Primär geht es, auch mit Blick auf die Versorgungslage in diesem und im nächsten Winter, darum, bereits vorhandene Infrastrukturen wie Notstromaggregate besser in die Stromversorgung zu integrieren. Dies ist eine Forderung, die von swisscleantech vor einiger Zeit aufgestellt wurde und nun auch vom Bundesamt für Energie (BFE) umgesetzt wird. Daneben ist es richtig, auch Projekte für neue Gasturbinen-Kraftwerke zur Bewilligungsreife zu bringen – ohne den Bau bereits auszulösen. Solche Kraftwerke könnten am zähen Widerstand der Gegner scheitern, weshalb es gilt, die Bewilligungsverfahren bereits heute voranzutreiben. Sollte sich die Versorgungslage verschlechtern, ist Geschwindigkeit gefragt.
Falscher Widerstand aus Klimaschutzkreisen
Wenig klug ist der bereits lancierte Widerstand aus Klimaschutzkreisen. Es stimmt zwar, dass Gasturbinen-Kraftwerke Mittel binden und man daher möglichst wenige davon bauen sollte. Aus der Perspektive des Klimawandels sind sie jedoch nur bedingt relevant – solange sie nicht in Dauerbetrieb sind. Aus dem Bericht der Elcom kann man ableiten, dass die Anlagen in einem Jahr mit grosser Deckungslücke während maximal 700 h betrieben werden müssten, wenn die maximale Leistung von 1.4 GW zugebaut würde[1]. Dabei würden Emissionen von etwa 490’000 Tonnen CO₂ erzeugt. Dies entspricht 1.7 % des CO₂-Ausstosses unseres aktuellen Energiesystems. Da eine so grosse Deckungslücke eher unwahrscheinlich bleibt, ist der Betrieb der Anlagen zumindest in den nächsten 20 Jahren als Emissionsquelle nicht relevant. Werden die Anlagen so ausgelegt, dass sie auch mit Wasserstoff genutzt werden können, könnten sie auch in einem erneuerbaren Stromversorgungssystem zum Einsatz kommen.
Gleichzeitig kann man es drehen und wenden, wie man will: In einer Übergangsphase, die so lange dauert, bis die Stromspeicherung über Batterien und synthetische Energieträger etabliert und der flexible Umgang mit Strom über Demand Side Management weitverbreitet ist, bleibt die fluktuierende Produktion der erneuerbaren Energien eine Herausforderung für ein stabiles Energiesystem. Deshalb sind die reaktionsschnellen und vergleichsweise günstigen Gasturbinen in einer Übergangsphase eine ideale Ergänzung zu Sonnen- und Windenergie. Fundamentaler Widerstand gegen Gasturbinen-Kraftwerke hilft deshalb vor allem den Gegnern der Energiestrategie 2050, die daran zweifeln, dass ein weitgehend erneuerbares Energiesystem machbar und auch finanzierbar sei. Diese Angst ist unbegründet, dies zeigen viele Studien.
Fünf Empfehlungen von swisscleantech
Zusammenfassend sind unsere Empfehlungen in vielem deckungsgleich mit dem anvisierten Vorgehen des Bundes:
- Voller Einsatz für den Ausbau der Winterstromproduktion der Erneuerbaren. Mit den aktuellen Gesetzespaketen bewegt sich schon einiges.
- Stromabkommen mit der EU vorantreiben.
- Wasserkraftreserve ausbauen – hier zeigt unsere Studie, dass noch mehr möglich ist.
- Notstromaggregate in die Stromversorgung einbinden und dabei möglichst auch die Wirtschaft engagiert einbinden.
- Gasturbinen-Kraftwerke ausschreiben und Bewilligungsprozess vorantreiben, aber – und das ist wichtig – vor jeder Realisierung einen Marschhalt einschlagen. Denn letztlich ist es günstiger, die Kosten für das Bewilligungsverfahren abzuschreiben, als ein unnötiges Kraftwerk zu bauen.
[1] Maximale Betriebszeit bei Extremszenario grosse Nachfrage, Ausfall KKW, geringer Zubau von erneuerbaren Energien, abgeleitet von Elcom Studie